Einleitung
Was ist ein Mythos?
Worum es hier geht und worum es hier nicht geht
Stahlseile
- Es dürfen nur verzinkte Drahtseile verwendet werden.
- Stahlseile mit Hanfseele
- Rostige Seile müssen entsorgt werden
Stahlseilendverbindungen
- Zu fest angezogene Klemmen zerstören das Stahlseil
- Klemmen dürfen nur 1 x aufgebracht werden…
- Rostige Klemmen müssen entsorgt werden.
- Kupferpresshülsen sind gefährlich. Nur Alu gilt.
- Klemmen dürfen nicht querbelastet werden.
Einleitung
Täglich vertrauen zigtausend Menschen Stahlseilen und deren Endverbindungen ihr Leben an. Kein Wunder, dass wir hier auf Nummer sicher und keine unnötigen Risiken eingehen wollen. Allerdings ranken sich um Stahlseile und -endverbindungen zahlreiche Mythen, die oft als „Regel“ um die Ecke kommen und sogar in Euronormen Eingang finden. In diesem Artikel möchte ich einige dieser Mythen auf Basis meiner 40-jährigen Erfahrung und meiner Forschungstätigkeit hinterfragen und zur Diskussion stellen. Vielleicht haben diese Mythen einen Hintergrund, den ich nicht kenne – wer die Hintergründe kennt oder Beweise dafür hat, ist herzlich eingeladen, mich direkt zu kontaktieren.
Was ist ein Mythos?
Der moderne Begriff dafür ist „Narrativ“. Es ist eine Erzählung, die plausibel klingt, die oft wiederholt wird und nicht hinterfragt wird. Denn wenn man sie hinterfragen würde, käme man drauf, dass es dafür keinen Beleg, keine (wissenschaftliche) Evidenz gibt.
Bekannt sind Mythen wie „Wenn ein Karabiner runterfällt, bekommt er Haarrisse“ oder „Seile werden im Laufe der Zeit auch bei bester Lagerung kaputt, so wie Plastikflaschen brüchig werden“. Klingt plausibel, die Fakten zeichnen aber ein anderes Bild.
Mythen halten sich oft sehr lange. Auch wenn bereits Gegenbeweise vorliegen, werden sie weitererzählt und geglaubt.
Worum es hier geht und worum es hier nicht geht:
Juristische Fragen: Nein
Fragen zu Normen und Standards: Nein.
Erkenntnisse aus meiner Inspektionserfahrung und Forschungstätigkeit: Ja, darum geht’s hier.
Daraus ergibt sich: Was in diesem Artikel steht, kann juristisch nicht erlaubt sein bzw. kann in einer Euronorm als „falsch“ bezeichnet werden. Es ist ein Aufruf zur Diskussion, aber keinesfalls zur Nichtbefolgung der Regeln!
In diesem Artikel geht es um Stahlseile und Endverbindungen. Endverbindungen deswegen, weil ein Stahlseil ohne dieselbe ziemlich nutzlos herumliegt.
Zuerst zu den Stahlseilen:
Stahlseile
Es dürfen nur verzinkte Drahtseile verwendet werden bzw. Drahtseile aus nichtrostendem Stahl
Diese Einschränkung macht nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass Stahlseile niemals inspiziert werden. Ich habe schon sehr oft unverzinkte Stahlseile verbaut gesehen, die überdies sehr lange halten, oft mehr als 10 Jahre in Gebrauch sind. Oberflächlicher Rost ist kein Grund, ein Stahlseil zu tauschen.
Um sicher zu gehen, kann man das Innere von unverzinkten Stahlseilen auf Rost überprüfen.
Stahlseile mit Hanfseele sind gefährlich.
Sogar in der EN 15567 steht, dass man Stahlseile mit Hanfseele nicht verwenden darf:
„Drahtseile mit einem Kern aus Naturfasern dürfen bei kritischen Anwendungen nicht verwendet werden.“.
Leider gibt es für Normungskommissionen keine Verpflichtung, ihre Forderungen zu begründen. Denn mich würde brennend interessieren, ob jemals ein Stahlseil versagt hat, weil es einen Kern aus Naturfasern hat. Angeblich bewirkt die Naturfaser, dass das Stahlseil korrodiert, weil die Naturfaser verrottet. Klingt aufs erste vielleicht plausibel, aber beim Hinterfragen fällt auf, dass hier nicht zwingend ein Zusammenhang bestehen muss. Wieso sollte ein verzinktes Stahlseil rosten, weil darin eine Hanfseele verrottet?
Als ich vor über 30 Jahren zwecks Recherche für Hochseilgärten das erste Mal in den USA war, erzählte man mir, dass ein Stahlseil über einem See gerissen sei. Als Grund wurde die Hanfseele genannt. Nur hatte niemand das genau analysiert. Es war eine plausibel klingende Annahme. Niemand konnte mir sagen, ob das Stahlseil womöglich unverzinkt war, es einfach so verrostet ist und niemals inspiziert wurde.
Seitdem sind zwar weitere Stahlseile gerissen, aber mir ist kein Fall bekannt, bei dem eine Seele aus Naturfasern das verursacht hätte.

Seile mit Flugrost müssen entsorgt werden.
Wenn Stahlseile rosten, handelt es sich meist (nicht immer!) nur um oberflächlichen Rost, der zu keiner Schwächung des Seiles führt.
Viele tauschten diese Seile „aus Sicherheitsgründen“ aus. Wo das nicht geschah, hielten sie tatsächlich aber mehrere Jahrzehnte und hatten danach die gleiche Bruchlast wie rostfreie Seile.
Versuche im Labor haben gezeigt, dass selbst bei deutlichem Rost die Bruchlast nicht wesentlich beeinträchtigt war.
Stahlseile, auf die ein Baum gefallen ist, müssen entsorgt werden.
Dahinter steckt der Mythos, dass ein Stahlseil, ein Mal überbelastet, so stark beschädigt ist, dass es bei deutlich geringerer Last versagt.
Ich habe zu dieser Annahme viele Tests gemacht und dafür kein Indiz gefunden.
Nach meinen Erkenntnissen muss man nach einem Baumschaden Stahlseil und Endverbindung inspizieren. Wenn Klemmen verschoben sind, unbedingt aufmachen und genau nachschauen, denn darunter kann sich sehr wohl ein Schaden verstecken. Aber wenn alles in Ordnung ist, spricht nichts gegen eine weitere Verwendung des Stahlseiles. Klemmen wieder anbringen, zuschrauben, weiterverwenden. Das darf man nicht? Siehe Mythos weiter unten.
Stahlseile mit Knick dürfen nicht in der Sicherungsebene verbaut sein.
Ein beliebter Fehler beim Hochseilgartenbau ist, das Stahlseil „quer“ von der Rolle zu ziehen. Dieser Fehler dürfte international passieren sein, da sogar die ISO 4309 darauf verweist:
Im verbauten Zustand sieht es so aus: man erkennt einen deutlichen Knick.
Der Mythos besagt, dass man so ein Stahlseil tauschen muss. Sicherheitsbedenken gibt es allerdings keine, bestenfalls aus ästhetischen Gründen.
Wenn so ein Knick in einem Flying Fox Seil ist, dann werden dort wahrscheinlich die ersten Drahtbrüche auftauchen, aber die zu entdecken ist ohnehin Aufgabe der operativen Inspektion.
Wären Knicke ein Problem wären, müsste es bereits Versagensfälle geben. Denn diese Knicke begegnen mir regelmäßig bei meiner Inspektionstätigkeit. Außerdem habe ich ein besonders stark geknicktes Seil im Labor einem Zugtest unterzogen – gebrochen ist es ganz wo anders und der Knick war verschwunden (nicht mehr sichtbar).
Stahlseilendverbindungen
Zu fest angezogene Klemmen zerstören das Stahlseil
Auch dieser Mythos ist in den diversen Normen niedergeschrieben.
Nehmen wir die typische Euronorm-Klemme her. Sie muss bei einem 10 mm Stahlseil mit 9 Nm angezogen werden. Als Begründung hört man: Weil sonst das Stahlseil geknickt und beschädigt wird.
Es ist mir nicht gelungen, einen lebenden Vertreter jener Normungsgruppe aufzutreiben, die das festgelegt hat. Die Norm ist zu alt. Mich würde die Evidenz dahinter brennend interessieren. Folgendes spricht nämlich FÜR ein höheres Drehmoment:
1. Die Verbindung hält höhere Kräfte aus.
2. Bei Biegebelastung in der Klemme brechen die Drähte später. Sie brechen früher, wenn die Klemme lockerer sitzt. Was aufs Erste widersprüchlich wirkt, ist aber technisch nachvollziehbar: Bei meinen zyklischen Biegeversuchen habe ich festgestellt, dass das Verschieben der Drähte untereinander zum erhöhten Abrieb führt und die Drähte dünner und dadurch gegenüber Hin- und Herbiegen empfindlicher werden. Und wenn man die Klemme „anknallt“, verschieben sich die Drähte weniger und verschleißen weniger.
Und was ist mit der Schädigung durch den Knick?
In der EN 13411-5 sind zwei Beispiele für Seilklemmen angeführt: Die „europäische“ und die „amerikanische“ Form. Und wenn man bei der amerikanischen Form die Klemme fürs 10 mm Seil sucht, stellt man fest, dass die mit 61 Nm (einundsechzig!) angezogen werden muss. Wenn man das macht, dann steht das Seil rechtwinkelig weg, so gequetscht wird es. Und offensichtlich wird dadurch das Seil nicht beschädigt.
Zahlreiche Tests im Labor haben ergeben: Es empfiehlt es sich, die Klemmen statt mit 9 Nm mit mindestens 15 Nm anzuziehen. Und keine Angst vor „zu viel“: Wenn man übertreibt, reißt man ohnehin die Schraube ab.
Klemmen dürfen nur 1 x aufgebracht werden…
…danach muss man a) sie und b) das Stahlseil entsorgen
Es gibt diesen Mythos. Die Praxis ist jedoch eine andere: Es ist „State of the Arts“, Seilklemmen dort zu verwenden, wo man – zum Beispiel bei einer Zipline – nachträglich die Länge anpassen möchte. Klemmen hinterlassen Abdrücke am Seil. Meine Versuche haben aber ergeben, dass diese Abdrücke kein Problem darstellen – Ausnahme: eine Flying Fox Rolle fährt dauernd drüber. Hier gilt das Gleiche wie beim Knick: in der operativen Inspektion beobachten.
Ich konnte keinerlei Belege finden, die dagegensprechen, Klemmen zu lösen, zu versetzen und wieder anzuziehen.
Und Klemmen selbst halten sowieso „ewig“. Die kann man so oft verwenden, wie man will.
Rostige Klemmen müssen entsorgt werden.
Für Klemmen gilt dasselbe wie für Stahlseile. Oberflächlicher Rost ist kein Problem. Und ob das Gewinde verrostet ist und nicht mehr greift, kann man leicht feststellen: einfach etwas nachziehen. Wenn das Gewinde kaputt ist, kann man die Mutter nicht nachziehen.
Kupferpresshülsen sind gefährlich. Nur Alu gilt.
Hier lohnt sich ein Blick über den Atlantik: Fragt man einen Amerikaner, dann wird er es genau umgekehrt sagen: Alu nie, immer Kupfer. In Amerika wird nämlich mit Kupferpresshülsen gearbeitet und Alu ist verpönt.
Allein daran sieht man, dass es sich um einen evidenzbefreiten Mythos handelt. Denn wie kann es sein, dass in Amerika Kupfer hält, aber bei uns nicht – und umgekehrt?
Also: Kupfer und Alu sind hier gleichwertig.
Klemmen dürfen nicht querbelastet werden.
Hier kommt die klare Bedingung: Es kommt auf die Last an und den Sicherheitsfaktor, den man möchte.
Querbelastete Klemmen halten mehr als. 3 Tonnen (30 kN). Geht man von 6 kN Lastannahme aus und einem Sicherheitsfaktor 3, dann ergibt das 18 kN Mindestbruchlast. Die querbelastete Klemme (30 kN) hält somit fast doppelt so viel aus, als sie müsste (18 kN).

Epilog
Es gäbe noch viele Mythen. Manche sind lustig: Zum Beispiel wurde ich einmal gewarnt, als ich mein Seil zum Abseilen über ein Stahlseil legte: Das darf man nicht, das ist gefährlich. „Das haben wir so gelernt“.
Erzählungen sind für Menschen seit Anbeginn wichtig. Sie waren jedenfalls vor der Schrift und vor der Norm da. Vielleicht ist das ein Grund, warum sie so verbreitet sind und sich so hartnäckig halten. Manche Mythen sind für uns nützlich, manche hinderlich. Aber wenn es um den Bau von Seilgärten oder um Normen geht, sollten wir da nicht der Evidenz den Vorrang geben?
Disclaimer
Dieser Artikel enthält meine Beobachtungen aus der Branche sowie von meinen Tests. Er darf nicht als Aufforderung verstanden werden, die Normen zu ignorieren, die viele der hier angeführten Mythen festschreiben.
Es geht mir vielmehr darum, eine Diskussion anzustoßen, vielleicht etwas mehr Fokus auf die Schonung unserer Ressourcen zu legen und gut funktionierende Teile nicht wegzuwerfen.
Infos und Kontakt:
Walter Siebert
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