Seilgärten als Freizeitsport – Die Seilgartennorm heißt im vollen Titel „Sport- und Freizeitanlagen – Seilgärten“. Sie regelt etwas, das zwischen der Spielplatznorm und der Norm für „Fliegende Bauten“ (Amusement Parks) liegt und ist in der gleichen Arbeitsgruppe wie Klettersteige, Bergsteigerausrüstung usw. angesiedelt. Und darin liegt ein Segen. Denn im Freizeitsport ist es ganz klar gemeinschaftlich akzeptiertes Risiko, sich ab und zu eine Verletzung zu holen, manchmal auch eine schwere. Jedes Wochenende werden von den Sportplätzen Schwerverletzte mit Bänderrissen, Knochenbrüchen usw. abtransportiert – und das Leben geht weiter, nächstes Wochenende spielen wir wieder. In manchen Sportarten ist der Tod akzeptiertes Risiko, z.B. Bergsport, Rennsport. Doch Risikobereitschaft und Verletzungstoleranz sind durch die drei folgenden Entwicklungen bedroht:

  • dass unsere Gesellschaft die Eigenverantwortung tendenziell abgibt
  • dass die Seilgartennorm ernsthafte Verletzungen sehr weit fasst und teilweise verbietet
  • dass Gutachter sich verstärkt auf die Norm für „Fliegende Bauten“ bei Gerichtsgutachten der Seilgarten- branche beziehen.

Trend: Reduktion der Eigenverantwortung

Inspiriert von den USA und wohl auch bei manchen von Gier getragen, beobachte ich in unserer Gesellschaft allgemein den Trend, bei jeder Möglichkeit zu klagen. Ob es jetzt den Kletterhallen- oder den Hochseilgartenbetreiber trifft – immer mehr Verletzte versuchen, jemandem die Schuld für das eigene Versagen zu geben. An dieser Stelle sei gesagt, es gibt durchaus berechtigte Fälle, bei denen seitens der Verantwortlichen, die auch Geld dafür nehmen, Fehler gemacht werden, und dann ist es selbstverständlich okay, dass hier Schadenersatz geleistet wird. Für schwere Vergehen haben wir die Strafgesetze. In den letzten Jahren hat es jedoch vermehrt Fälle gegeben, bei denen geklagt wurde, obwohl der Teilnehmer eindeutig selbst schuld war, oder bei denen einfach Pech im Spiel war. Hier ein paar Beispiele:

  • Absichtliches seitliches Wegspringen, um einen Baum zu berühren und sich dabei den Haxen brechen. 
  • Mit aller Kraft die Beine so hoch wie möglich heben, um irgendwie über den Bremshügel einer Zipline zu kommen und gegen den – eh gepolsterten – Baum zu prallen.
  • Entgegen der klaren Anordnung des Trainers den Fingerring am Finger lassen und sich dann aufregen, dass der Finger verletzt ist.
  • Der Teilnehmer – eh schon völlig erschöpft – geht doch noch den schwersten Parcours und hat nicht mehr die Kraft, die Beine für die Landung zu heben und bricht sich den Knöchel.

Nun könnte man bei all diesen Fällen meinen: Selbst schuld. Doch es gibt eben einen entgegengesetzten Trend: Es soll jemand anderes für meine Ungeschicklichkeit, Blödheit oder gar für meinen Ungehorsam zahlen. Hat es früher geheißen: „Wer nicht hören will, muss fühlen“, entwickeln wir uns Richtung: „Wer nicht hören will, darf kassieren.“ 

Verschärft wird diese Situation noch bei vorsätzlichem Verhalten. Es macht auf mich den Eindruck, dass jene, die absichtlich gegen die Regeln verstoßen, mit jenen, die trotz Einhaltung der Vorgaben zu Schaden kommen, gleichgestellt werden. Hier wäre eine stärkere Differenzierung wünschenswert. Hier könnte die Seilgartennorm ein Statement abgeben, aber leider bewegt auch diese sich in eine andere Richtung.

Neu in der EN 15567 – „ernsthafte Verletzungen“

Interessanterweise hat das Normungsgremium bei der Überarbeitung der Seilgartennorm den oben beschriebenen Trend massiv unterstützt. Denn in der neuen Fassung 2015 wurde der Begriff „Ernsthafte Verletzung“ (siehe Kasten, der entscheidende Satz ist von mir unterstrichen) eingeführt, und dieser enthält (neben einigen Unverständlichkeiten) folgenden Zündstoff: Ab sofort sind beispielsweise „normale“ Knöchelbrüche, wie sie beim Umknöcheln auf der Straße leicht passieren, eine ernsthafte Verletzung. Ein Bruch des Handgelenks, eine Standardverletzung bei Sturz während des Ballspielens, wird zur ernsthaften Verletzung – und das hat Konsequenzen. 

Die EN 15567:2015 Teil 1 definiert:

3.21 ernsthafte Verletzung <Seilgärten>

eine der folgenden Verletzungen:

  • Brüche, bei denen nicht Finger, Daumen und Zehen betroffen sind;
  • Amputationen;
  • jede Verletzung, die zu einem dauerhaften Verlust oder einer
  • Einschränkung der Sehfähigkeit führt;
  • jede Quetsch-/Stoßverletzung an Kopf oder Rumpf, die das Gehirn oder innere Organe schädigt;
  • jede schwere Verbrennung (einschließlich Verbrühung), die:
  • mehr als 10 % des Körpers betrifft;
  • zu einer ernsthaften Schädigung der Augen, des
  • Atmungssystems oder anderer lebenswichtiger Organe führt;
  • jede Ablösung der Kopfhaut, die einen Aufenthalt im Krankenhaus erfordert;
  • jede Bewusstlosigkeit durch eine Kopfverletzung oder Erstickungs-
  • erscheinungen;
  • jede andere Verletzungen, die durch die Arbeit in einem
  • geschlossenen Raum entsteht, die:
  • zur Unterkühlung oder einer hitzebedingten Erkrankung führt,
  • eine Wiederbelebung oder eine Aufenthaltsdauer in einem Krankenhaus von mehr als 24 h erfordert

Steht in der Einleitung noch, dass Seilgärten immer mit Risiken verbunden sind, wird das erlaubte Maß durch die Einführung des Begriffs der „ernsthaften Verletzung“ stark reduziert. Problematisch wird dies zum Beispiel in den Notfallbremsen bei Seilrutschen:

4.3.4.2.4 Schutz im Landebereich der Seilrutsche

  • Es muss eine Primärbremse vorhanden sein, um die Verzögerungsrate im Landebereich zu steuern und dadurch das Verletzungsrisiko auf ein zulässiges Maß zu mindern.
  • Wo ein Ausfall der Primärbremse ein ernstzunehmendes Risiko in Bezug auf eine ernsthafte Verletzung oder den Tod darstellt, muss eine Notfallbremse vorhanden sein.

3.23 Notfallbremse

  • passives Bremssystem, das beim Ausfall der Primärbremse die Verlangsamung des Teilnehmers steuert, um eine ersthafte Verletzung oder den Tod zu verhindern

Dass Tod und Querschnittslähmung vermieden werden müssen, leuchtet ein und steht außer Frage. Aber alle einfachen Knöchel- und Handgelenksbrüche? 

Standardmäßig werden 20cm dicke Prallmatten bei einfachen Seilrutschen als Notfallbremse eingesetzt. Doch jeder, der sich mit Matten beschäftigt, weiß, dass dadurch kein Knöchel- oder Handgelenksbruch vermieden werden kann. Bedeutet das, dass alle Matten durch vier Meter lange Rampen mit Verzögerungsfedern ersetzt werden müssen oder Flying Foxe so langsam werden, dass sich alle Teilnehmer die letzten Meter hineinhangeln müssen?

Denn Knöchel- oder Handgelenksbrüche passieren ab wenigen Zentimetern Fallhöhe. So entspricht ein Sturz aus dem Stand, der für einen Bruch des Handgelenks reicht, einer Anprallgeschwindigkeit von 10-15 km/h. Brüche können aber schon bei deutlich langsamerer Geschwindigkeit auftreten.

Selbst nach der Spielplatznorm EN 1176 gehören Knochenbrüche zum gesellschaftlich akzeptierten Risiko. In der Einleitung heißt es, dass Kinder lernen müssen „(mit Risiken fertig zu werden, und das kann auch zu Prellungen, Quetschungen und sogar gelegentlich zu gebrochenen Gliedmaßen führen.)“ Zur Zeit legen wir mit der Seilgartennorm den Maßstab wesentlich höher. 

Ich bin dafür, dass wir den Begriff ernsthafte Verletzung bei der nächsten Normauflage streichen und durch Tod und Invalidität ersetzen. 

Was nun, wenn jemand unabsichtlich oder sogar absichtlich seitlich wegspringt und mit einem Baum kollidiert, der durch eine Prallmatte geschützt ist? 

4.3.1 Allgemeine sicherheitstechnische Anforderungen:

  • Wenn die Wahrscheinlichkeit besteht, dass ein Teilnehmer durch den Zusammenprall mit einem in der Nähe des Elementes stehenden Hindernis (z. B. einem Baum) Verletzungen erleidet, sollte eine entsprechende Sicherheitsvorrichtung angebracht werden (z. B. sollte ein Teil des Baumstammes mit einer Polsterung versehen werden).

Laut Norm ist es in Ordnung, Bäume zu polstern, die in der Nähe von Ziplines stehen und die man mit Pendeln erreichen kann. Nicht klar geht hervor, ob die Polsterung wie bei der Notfallsbremse ernsthafte Verletzungen völlig vermeiden muss oder nur die mögliche Verletzung reduzieren soll – was sie aber gar nicht könnte, wie ich weiter oben schon erläutert habe. Es gibt bereits Gutachter, die diese Lücke oder Widersprüchlichkeit so interpretieren: Knochenbrüche aufgrund von Pendelbewegungen bei Ziplines sind trotz standardmäßiger Polsterung ein Normverstoß.

Diese Lücken und die Reduktion der Verletzungstoleranz in der Seilgartennorm führen immer mehr dazu, dass sich die Seilgartennorm ihrer Konkurrentin annähert und letztendlich von ihr ersetzt werden könnte. Warum lesen Sie hier:

Verweis auf die Norm  „Fliegende Bauten“

Die Norm EN 13814 „Fliegende Bauten“ ist gültig für beispielsweise Vergnügungsparks, Hochschaubahnen, Karussells, Schießbuden. Wichtig ist hier, zu wissen, dass anders als bei der Seilgartennorm bei den fliegenden Bauten überhaupt nicht davon ausgegangen wird, dass man sich beim Besuch oder Nutzung dieser Anlagen verletzen kann. Wenn Fliegende Bauten als Referenz für Risiko herangezogen werden, dann hat das ernsthafte Konsequenzen. Verletzungen müssen dort praktisch ausgeschlossen sein.

Aufgrund von Gutachtern, die sich bei Unfällen in Seilgärten auf die Norm für fliegende Bauten beziehen, lehnen sich auch einige Gerichtsurteile in der letzten Zeit eher an die Norm für Vergnügungsparks an. Leider ignorieren diese Gutachterkollegen die Tatsache, dass sich die Seilgartennorm nicht auf die Norm für fliegende Bauten bezieht und diese nicht erwähnt (wie bei der Spielplatznorm). Aber wenn sie vermehrt als Grundlage für die richterliche Entscheidung herangezogen wird, nützt das den Betroffenen wenig und hat mittelfristig auch Auswirkung auf die gesamte Branche. 

Wenn wir nicht gegensteuern, haben wir bald nur mehr Spielplätze mit maximal drei Metern Höhe oder Amusement-Parks. Wer wissen will, wie das abläuft, fahre nach Dubai, dort ist seit zwei Jahren die Seilgartennorm gestrichen und durch die Fliegenden Bauten ersetzt worden. Es gibt dort keine Seilgärten mehr.

Rettet die Seilgartennorm und Seilgärten als Sport!

Gefahr erkannt, Gefahr gebannt? Noch nicht ganz. Das Erkennen der Gefahr ist ein wesentlicher erster Schritt, jetzt braucht es das Zusammenwirken aller – von jedem Betreiber, Gutachter und Verbandsmitglied. Was sind die möglichen Hebel, die Seilgärten als Freizeitsport und die Seilgartennorm als eigenständige Norm zu erhalten? Hier ein paar Impulse:

  • Betreiber werben nicht mit 100%-iger Sicherheit und schreiben statt „Spaß und Fun für die ganze Familie“  „Sporterlebnis für die ganze Familie“.
  • Alle, die in Normungskommissionen arbeiten oder darauf ein wirken, setzen sich für die Schärfung bzw. Erweiterung des 
  • Risikobegriffs ein und geben ein klares Statement, dass im Sicher- heitskonzept nicht von Vorsatz ausgegangen wird.
  • Gutachter bleiben bei der Seilgartennorm und beziehen sich nicht auf „artfremde“ Normen.
  • Verbände nehmen sich aktiv dieses Themas an, informieren 
  • Mitglieder und Konsumenten, geben klare Statements und nutzen ihren Einfluss auf die Normungskommission 

Wir müssen uns dafür einsetzen, dass Seilgärten Sportanlagen bleiben. Die Alternative sind kostspielige Umbauten, mehr Gerichtsprozesse und Einschränkungen beim Betreiben von Seilgärten. Und damit ginge mittelfristig eine der wenigen Möglichkeiten verloren, in der Eigenverantwortung für eine breite Gesellschaftsschicht gelebt und geschult werden kann. Im Seilgarten kann man scheitern und ist dennoch gegen schwerwiegende Folgen geschützt. Anders als zum Beispiel im Bergsport, der weniger Personen zugänglich ist und auch eine höhere Fatalitätsrate hat.

 

Infos und Kontakt:

Walter Siebert

Erstinspektionen, Folgeinspektionen, Gutachten

Gerichtlich Zertifizierter Sachverständiger (Gutachter)

Unabhängige Inspektionsstelle

„Typ A“ gemäß EN ISO/IEC 17020:2012

Mitglied des SISKA (Sicherheitskreis Seilkletteranlagen),

Ramperstorffergasse 37

A-1050 Wien 

Tel: +43 664 102 8487 

Fax: + 43 (1) 545 32 00 32

E-Mail: office@siebert.at 

www.siebert.at