▸ Technische Normen sind in vielerlei Hinsicht ein Segen, denn Normen sind häufig die einmalige Lösung eines immer wiederkehrenden Problems. Nehmen wir als Beispiel Schraubverbindungen. Passt die Schraube zur Mutter? Kein Problem, falls beide nach der entsprechenden Norm gefertigt sind. Dann passt das Innengewinde der Mutter zum Außengewinde der Schraube. Garantiert! Stellen wir uns vor, jeder Hersteller konstruiert das Gewinde seiner Schrauben und Muttern nach Lust und Laune. Ein Desaster! Normen schützen darüber hinaus Menschen tagtäglich vor unzulänglichen oder gar gefährlichen technischen Geräten. Normen sind deshalb in unserer industrialisierten und technischen Welt sinnvoll.

Keine Anforderung ohne Prüfung

Es gibt viele Details und Regeln, die bei der Erstellung von Normen wichtig sind. Eine Regel lautet „Keine Anforderung ohne Prüfung!“. Das heißt, dass im vorderen Teil der Norm eine Anforderung formuliert ist und weiter hinten wird die Prüfung hierfür exakt beschrieben. Es wird detailliert erläutert, wie das Teil zu prüfen ist.

Als Beispiel diskutiere ich hier die Anforderung der Dämpfungseigenschaften für eine Turnmatte Typ 4. Dieser Mattentyp wird in der entsprechenden Norm definiert als Matte für einfache Abgänge von Geräten mit kontrollierten Landungen. In der entsprechenden Tabelle ist nachzulesen, dass dieser Mattentyp 4 bei der entsprechenden Prüfung folgende Eigenschaften nachweisen muss:

    • Maximale Bremsbeschleunigung g (1 g = 9,81 m/s2):       </= 40
    • Eindringtiefe mm:             </= 110
    • Rückstellkoeffizient %:           </= 50

Die Überprüfung der Matte ist exakt festgelegt. Dies hat den Vorteil, dass zwei Prüfer beim Test einer baugleichen Matte zum gleichen Ergebnis kommen. Der Ablauf und die Instrumente für die Prüfung sind vorgeschrieben. Für die Prüfung ist ein Prüfkörper mit einer Masse von 20 kg +/- 0,2 kg einzusetzen. Die Prüfmasse muss unten halbkugelförmig sein und hat dort einen Radius von 75 mm +/- 1 mm. Zudem wird die Masse aus einer Höhe von 800 mm +/- 1,0 mm auf die Matte fallen gelassen; und zwar an acht genau beschriebenen Stellen der Matte. Im Inneren muss sich ein Beschleunigungsmesser befinden, der zudem über eine definierte Mindestaufzeichnungsrate verfügt.

Der Mattenhersteller konstruiert eine Turnmatte des Typs 4 und lässt diese von einem unabhängigen Prüflabor auf Normkonformität prüfen. Dies ist eine der Voraussetzungen, um die Matte in den Verkehr zu bringen.

Schutz bei Erfüllung der Norm

Nehmen wir an, dass sich nun ein Turner bei der Landung auf der Matte das Sprunggelenk gebrochen hat und den Mattenhersteller verklagt. Der Turner behauptet, dass die Matte nicht geeignet war. Beweis für die mangelhafte Matte sei sein Sprunggelenksbruch. Der Mattenhersteller wird nun vorbringen, dass die Matte normkonform war. Eventuell wird mittels eines Tests überprüft, ob die Matte zum Zeitpunkt des Unfalles die Anforderungen der Mattennorm erfüllte. Falls die Matte zum Zeitpunkt des Unfalles normkonform war, wird der Mattenhersteller in aller Regel zivilrechtlich nicht belangt werden können.

Zu allgemeine Formulierungen

Nehmen wir nun an, die Forderung in der Norm für eine Turnmatte des Typs 4 würde viel allgemeiner lauten:

Eine Turnmatte des Typs 4 muss ernsthafte Verletzungen von Turnern bei deren Landung verhindern. Der Bruch eines Sprunggelenks gilt als ernsthafte Verletzung.

Bitte versetzen Sie sich in den Hersteller von Turnmatten des Typs 4. Wie kann es dem Hersteller gelingen, diese Forderung sicher zu erfüllen? Wie müsste die Matte konstruiert sein? Ist eine Konstruktion vorstellbar, welche solche Verletzungen sicher für alle Fälle verhindern kann? Nehmen wir an, der Turner bzw. die Turnerin leidet unter fortgeschrittener Osteoporose. Dann ist es möglich, dass sich die Verletzung auch bei einer völlig kontrollierten und geglückten Landung ereignet. Die obige Forderung ist eindeutig; wie allerdings soll ein Sachverständiger die Forderung prüfen? Kann er bestätigen, dass die Matte ernsthafte Verletzungen verhindert? Aus SISKA-Sicht wäre das nicht möglich. Wie schaut es vor Gericht aus? Genau genommen beweist der Bruch des Sprunggelenks, dass die Matte nicht normkonform war – falls die obige Forderung exakt so in der Norm stehen sollte.

Die DIN EN 15567-1

In der Seilgartenbranche ist für Seilgärten die DIN EN 15567-1 Seilgärten, Teil 1 Konstruktion (…) einschlägig. Diese Norm enthält immer wieder Anforderungen, zu denen es keine entsprechenden, definierten Prüfungen gibt. Der Grundsatz „Keine Anforderung ohne Prüfung“ wird in dieser Norm recht häufig verletzt. Um nicht falsch verstanden zu werden: Aus Sicht der SISKA hat die Norm durchaus ihre Berechtigung, da die Forderungen in der Norm in vielen Fällen die Teilnehmer bei der Begehung von Wald- und Hochseilgärten schützen. Das ist gut und richtig. Beim künftigen Überarbeiten der Norm sollte der Grundsatz „Keine Anforderung ohne Prüfung!“ allerdings so weit als möglich eingehalten werden.

Hier nun ein Beispiel aus der DIN EN 15567-1, bei dem der obige Grundsatz nicht eingehalten wurde:

4.3.4.2.4 Schutz im Landebereich der Seilrutsche

Es muss eine Primärbremse vorhanden sein, um die Verzögerungsrate im Landebereich zu steuern und dadurch das Verletzungsrisiko auf ein zulässiges Maß zu mindern.

Wo der Ausfall der Primärbremse ein ernstzunehmendes Risiko in Bezug auf eine ernsthafte Verletzung oder den Tod darstellt, muss eine Notfallbremse vorhanden sein.

Laut DIN EN 15567-1 sind die Begriffe Notfallbremse und ernsthafte Verletzung folgendermaßen definiert:

3.23 Notfallbremse

Passives Bremssystem, das beim Ausfall der Primärbremse die Verlangsamung des Teilnehmers steuert, um eine ernsthafte Verletzung oder den Tod zu verhindern.

3.21 Ernsthafte Verletzung

Eine der folgenden Verletzungen:

  • Brüche, bei denen nicht Finger, Daumen oder Zehen betroffen sind;

Verbesserungsbedarf bei der DIN EN 15567-1

Zusammengefasst wird in der Seilgartennorm eine Notfallbremse für Seilrutschen gefordert, die ernsthafte Verletzungen von Teilnehmern beim Ausfall der Primärbremse verhindert. Der Bruch eines Sprunggelenks gilt laut Definition in der Norm als ernsthafte Verletzung. Wer die Norm ganz genau liest, stellt fest, dass dies auch dann gilt, falls der Teilnehmer die Primärbremse nicht nutzt. Die Primärbremse ist z. B. das Auslaufen auf einer Anlanderampe. Die Notfallbremse hat definitionsgemäß jegliche Knochenbrüche – ausschließlich der Finger und Zehen – zu verhindern. Bitte versetzen Sie sich wieder in den Hersteller der Seilrutsche. Erfüllt Ihre Seilrutsche sicher die obige Forderung? Auch für Teilnehmer mit fortgeschrittener Osteoporose? Könnten Sie als Sachverständiger bei der Abnahme bestätigen, dass sich Teilnehmer bei der Landung keine ernsthaften Verletzungen zuziehen? Aus SISKA-Sicht ist das nicht möglich.

In diesem Sinne gibt es dringenden Verbesserungsbedarf bei der Seilgartennorm DIN EN 15567-1. Bei der weiteren Überarbeitung der Norm sollte der Grundsatz „Keine Anforderung ohne Prüfung!“ möglichst stringent angewendet werden.

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Dieter Stopper

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