▸ Martin Zeller leitet das Baumzentrum Kaiserstuhl und lehrt an der Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen der TU Dortmund die Fächer „Tree Engineering“, „Organisches Bauen“ und „Organic Tiny House“. Außerdem begleitet er die Weiterentwicklung von Baumankersystemen an der TU Dortmund. Seine Sachkenntnisse und Forschungen zu adaptiven Baum-Tragstrukturen und Baum-Implantattechniken sind für die Kletterwaldbranche wegweisend.

In der Prüfhalle des Lehrstuhls für
Befestigungstechnik werden Versuche
angestellt, um die Entwicklung von geeigneten Baumankersystemen (Baumschrauben, Implantate und Baumankerkoppelungen) zu unterstützen

 

Lebende Bäume als adaptive Tragstrukturen

Bäume bestehen aus sichtbaren Organen, wie etwa Stammfuß, Schaft, Ästen, Zweigen und Blättern und aus für uns nicht sichtbaren, unterirdischen Organen im Wurzelsystem. Starkwurzeln sind für die Standsicherheit, Feinwurzeln und symbiotische Mykorrhizapilze sind für die Versorgung zuständig.

Bäume bilden eine integrale Tragstruktur aus den Hauptorganen Wurzel, Stamm und Krone. Die Gestalt seiner Struktur resultiert aus Baumgenetik (erfassbar z.B. in Wachstumstropismen), biologischer und mechanischer Belastungsgeschichte sowie Schadensereignissen. Die Steifigkeit dieser Struktur ist in der Genetik des Baumes so angelegt, dass sich seine Vorfahren erfolgreich reproduzieren und die integrale Stabilität erhalten konnten.

Bäume sind Lebewesen, die von der Keimung bis zum Absterben wachsen, Stoffwechsel betreiben, Krankheiten und Parasiten abwehren, über Sinnesorgane verfügen und deshalb in der Lage sind, auf äußere Reize zu reagieren.

Die Stabilität und Robustheit eines Baumes werden nicht in erster Linie durch die Baumart, sondern durch die Verarbeitung dieser äußeren Reize erzeugt. Krafteinflüsse durch Wind, Regen und Schnee bewirken ein standorttypisches Wachstum. So kann zum Beispiel eine Kiefer an einer ausgesetzten Position eine höhere Holzdichte erzeugen als eine Eiche in einem nährstoffreichen und geschützten Bestand.

Im Bauwesen werden Wohnkörper „gegründet“, also z. B. durch Stützen und Fundamente mit dem tragenden Erdreich verbunden. Im Baumhausbau und im Kletterwald übernehmen der Schaft und das Wurzelwerk des Tragbaumes diese Aufgabe. Im Bauwesen beginnt ab Fertigstellung des Tragwerkes der Verfall durch physikalische Zersetzung, Korrosion und Abnutzung. Im Kletterwald- und Baumhausbau dagegen passiert etwas Besonderes: Der vitale Tragbaum ist in der Lage, die eingeleiteten Lasten zu adaptieren und sich entsprechend für diese Aufgabe zu optimieren, indem entsprechendes Reaktionsholz ausgebildet wird.

Eine kurze Erklärung: Bäume verfügen über Rezeptoren, welche nach der Installation der technischen Anlage lokal erhöhte Spannungen im äußeren Holzkern und im Wurzelsystem feststellen. Um die akut überhöhten Spannungen (Spannung = Kraft / Fläche) wieder auf ein Normalmaß zurückzuführen, wird an den betroffenen Stellen die Querschnittsfläche durch erhöhtes Dickenwachstum vergrößert (siehe Foto).

Darüber hinaus ist ein vitaler Baum in der Lage, durch Zellausdifferenzierung spezielles Holzmaterial zu produzieren, das je nach Beanspruchung mehr Zugfestigkeit oder mehr Druckfestigkeit aufweist.

Für die Abwehr von Krankheiten stehen dem vitalen Baum verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung: Mikroorganismen und Parasiten werden durch Duftstoffe und Hormone abgewehrt, eingedrungene Individuen mit Harz bekämpft. Holz zersetzende Pilze werden in Kompartimenten biochemisch abgeschottet, damit sie sich nicht weiter im Holzkern ausbreiten können.

Der markante Unterschied zwischen einem technischen Tragwerk und einem vitalen Baum als Tragwerk liegt auf der Hand: Während das technische Tragwerk ab Fertigstellung verrottet, optimiert sich der vitale Baum als lebende Tragstruktur in seiner Gestalt und betreibt daneben eine aktive Abwehr von Krankheiten und Parasiten.

Diese Fähigkeiten bilden folgende Grundlagen für die neuen wissenschaftlichen Fachgebiete „Tree Engineering“ und „Baubotanik“:

  • Gehölze sind Pflanzen, die durch Zelldifferenzierung unterschiedliche Materialfestigkeiten erzielen
  • vitale Bäume sind in der Lage, Dehnung im Stamm permanent zu überwachen. An Stellen intensiver Deformation wird der Querschnitt verstärkt und die Festigkeit des Faserverbundes durch spezialisierte Holzzellen erhöht
  • vitale Bäume adaptieren sich somit auch an zusätzliche Lasten aus technischen Anlagen. Jeder neue Jahresring bildet dies ab
  • vitale Bäume können im Wurzelsystem aber auch im Kronenbereich „Verschweißungen“ ausbilden, was für eine gewollte Versteifung (siehe Fotos) sehr effizient sein kann.

Auswahl geeigneter Bäume als Tragbäume

Um sicherzustellen, dass sich ein ausgewählter Baum auch als Tragbaum für besondere Lasten,

z. B. für eine Plattform oder als Startbaum eines Parcours im Kletterwald oder für ein Baumhaus eignet, sind mehrere eingehende Untersuchungen erforderlich. Diese erfolgen nach einer biologischen und morphologischen Beurteilung, bei der die grundsätzliche Eignung als möglicher Tragbaum festgestellt wird.

In den Regelwerken über Baumkontrolle und Baumbegutachtung wird in visuelle Beurteilung und weiterführende Untersuchungen unterschieden. Für Straßen- und Parkbäume gilt, dass weiterführende Untersuchungen nur angestellt werden müssen, wenn bei der vorangegangenen visuellen Beurteilung Indizien für eine Beeinträchtigung der Stand- und/oder Bruchsicherheit entdeckt wurden. Für die Begutachtung von Bäumen, die zusätzlich zu den natürlichen Lasteinwirkungen einen künstlichen Lasteintrag (zum Beispiel durch die Installation einer Seilkletteranlage oder eines Baumhauses) erfahren, schreiben entsprechende Regelwerke den Nachweis über eine ausreichende Tragfähigkeit vor.  Aus gutem Grund: Der vorher unbelastete Tragbaum wird durch die zusätzliche Beanspruchung zunächst in seiner Stand- und Bruchsicherheit geschwächt. In der anschließenden Adaptionsphase bildet der vitale Baum aber entsprechendes Reaktionsholz aus, um die zunächst überhöhten Spannungen aufnehmen zu können.

Wie bereits beschrieben, ist nur der überirdische Teil eines Baumes für uns sichtbar, wenngleich die unsichtbaren Bestandteile – also die Gründung des Baumes, das Wurzelwerk – für die Eignung als Tragbaum eine bedeutende Rolle spielen. Eine rein visuelle Beurteilung ist deshalb ungenügend.

Aussteifungen einer Rotbuche mit Kernfäule

Baumbeurteilung Stufe I – Visuelle Baumbeurteilung

Zunächst wird die grundsätzliche Eignung der ausgewählten Baumart überprüft. Nicht jede Baumart eignet sich für die Einleitung von künstlichen Lasten, außerdem reagieren manche Baumarten allergisch auf die Berührung durch künstliche Anbauten.

Sehr gut geeignete heimische Baumarten sind zum Beispiel Rotbuche, Bergahorn, Eiche, Zeder und Weißtanne. Mäßig geeignet sind zum Beispiel Weißbuche, Linde, Edelkastanie, Waldkiefer und Fichte. Nicht geeignete Baumarten sind zum Beispiel Birkenarten und die Rosskastanie. Die grundsätzliche Eignung wird in erster Linie dadurch bestimmt, inwieweit sich die Dichte des Holzkernes nach einem mechanischen Eingriff verändert und wie gut eine Baumart in der Lage ist, eindringende Pilze und Parasiten abzuwehren. Natürlich ist auch die Morphologie, also die gewachsene Gestalt eines Baumes sehr relevant. Im Zuge des Klimawandels werden Temperaturerhöhung, Absenkung des Grundwasserspiegels und anhaltende Trockenphasen unterbrochen durch extreme Regenfälle, zu einem spürbaren Problem für viele Baumarten.

Im Kletterwald erfahren die beteiligten und umliegenden Bäume durch den Verkehr mit der Folge von z. B. Bodenverdichtung und Verletzung der sensiblen Wurzelanläufe zusätzliche Belastungen. In einer vorausschauenden Baumbeurteilung sollte auch die Resilienz der ausgewählten Bäume bereits im ersten Schritt mitberücksichtigt werden.

Im zweiten Schritt der visuellen Baumbeurteilung wird der mögliche Tragbaum auf äußerlich wahrnehmbare Anzeichen von Krankheiten hin untersucht. Für den Befall mit Holz zersetzenden Pilzen (Baumfäulen), Parasiten, Bakterien oder anderer Mikroorganismen gibt es so genannte „Schadsymptome“, welche von einem gut ausgebildeten Baumsachverständigen auch erkannt werden sollten.

In der Versuchsanlage der TU Dortmund werden ganze Baumstämme verschiedenen mechanischen Belastungen unterworfen, um die Festigkeit von grünem Holz zu erforschen

Baumbeurteilung Stufe II  – Weiterführende Untersuchungen

Für weiterführende Untersuchungen sind mehr oder weniger aufwändige Werkzeuge und Gerätschaften erforderlich: Sondierstab, Schonhammer, Locheisen, Endoskopkamera, Bohrwiderstandsmessgerät, Schalltomograph, etc. Wie bei den anderen Lebewesen auf unserem Planeten gibt es auch bei Bäumen kein fehlerfreies Individuum. Ein gesunder Befall mit Parasiten und eine Symbiose mit bestimmten Bakterien und Pilzen ist kein Ausschlusskriterium, sondern völlig natürlich und deshalb akzeptabel. Ein kranker Baum, welcher durch den Befall oder mechanischen Schaden voraussichtlich an Vitalität verlieren wird, scheidet dagegen als möglicher Tragbaum aus.

Die weiterführende Untersuchung von Tragbäumen unterscheidet sich im Kletterwald auch stark von den weiterführenden Untersuchungen an Straßen- und Parkbäumen, bei welchen die Einschränkung der Stand- und / oder Bruchsicherheit bis zu einem gewissen Maß hingenommen wird.

Vor allem morphologische und mechanische Vorschäden können einen ausgewählten Baum schnell als Tragbaum disqualifizieren: zum Beispiel aktive Druckzwiesel mit Rindeneinschluss oder Ausmorschungen des tragenden Holzkernes können bei einem Tragbaum keinesfalls akzeptiert werden. Im Schadensfall würde keine Versicherung finanziell ausgleichen, wenn zum Zeitpunkt der Begutachtung klar war, dass die Tragstruktur beschädigt ist.

Baumbeurteilung III – Tree Engineering Gutachten

Im traditionellen Bauwesen ist für ein geplantes Bauvorhaben ein statischer Nachweis des Tragwerkes und der Gründung erforderlich. Es ist nur folgerichtig, dass für die ausreichende Tragfähigkeit eines lebenden Baumes, der als Tragstruktur z. B. für ein Baumhaus dient, ein entsprechender Nachweis verlangt wird. Da es für diesen Nachweis noch keine veröffentlichte DIN-Norm gibt, taten sich sowohl die Behörden als auch die verantwortlichen Baumsachverständigen in der Vergangenheit schwer mit einer geeigneten Form des statischen und dynamischen Nachweises.

Seitdem Tree Engineering  seit 2020 am Institut für Baumechanik, Statik und Dynamik der TU Dortmund für angehende Bauingenieure als Wahlpflichtfach für den Bachelor- und auch Masterstudiengang angeboten wird, können Ingenieure entsprechende Beurteilungen vornehmen und Gutachten erstellen.

Tree Engineering ist eine junge Ingenieurwissenschaft, welche die Biologie, Morphologie, Mechanik, Statik und Dynamik von Bäumen umfasst.

Neben der primären Zielsetzung (Verankerung von technischen Anlagen in vitalen und ausreichend tragfähigen Bäumen), verfolgt das Tree Engineering auch Ziele des nachhaltigen Bauens sowie des Klimaschutzes durch die Schaffung oder den Erhalt von Wäldern, bei gleichzeitiger Bereitstellung von Verkehrsraum, Arbeitsraum und Wohnraum. Tree Engineering ist ein Arbeitsgebiet des Bauwesens, weil sowohl Fächer des Bauingenieurwesens

(Versorgungstechnik, Baudynamik, etc.) als auch der Architektur (Modulbauweise, Tiny House Movement, etc.) angesprochen werden. Dazu gehören auch Planung und Konstruktion der technischen Einrichtung bzw. der technischen Anlage, welche in ausreichend vitalen Bäumen verankert wird. Der so genannte „Tragbaum“ übernimmt im Gesamtsystem hauptsächlich die Funktionen der primären Tragstruktur und der Gründung.

Eine besondere Rolle spielt im Tree Engineering das Baumgutachten. Hier werden individuelle, statisch relevante Parameter erfasst und interpretiert. Dies bildet jeweils die Grundlage für sämtliche darauf aufbauenden Planungen. In diesem Tree Engineering Gutachten wird die Tragfähigkeit des lebenden Baumes (Widerstandseite) mit den zu verzeichnenden Lasteinträgen (Lastseite) rechnerisch verglichen.

Insofern spielt Tree Engineering auch eine wichtige Rolle bei der Verkehrssicherungspflicht. Hier geht es darum, die Standsicherheit und Bruchsicherheit eines Baumes im öffentlichen Raum zuverlässig zu berechnen, also mathematisch nachzuweisen. Auf der Basis mechanischer Betrachtungen können Entscheidungen über weitere Maßnahmen, z.B.  Einkürzung, Kronensicherung, Abstützung, Abspannung, etc. getroffen werden.

Tree Engineering Gutachten – baumstatische und dynamische Nachweise

Im Tree Engineering Gutachten werden der Standort eines potenziellen Tragbaumes, dessen Funktion im Bestand und seine Gestalt beschrieben und beurteilt. Die Parameter der Lastseite, also alle Kräfte, welche durch die technische Anlage auf den lebenden Baum einwirken, werden berechnet und aufgeführt. Die Parameter für die Widerstandsseite werden durch die Laborprüfung einer Bohrkernprobe ermittelt. Das sind die Druck-, Zug- und Biegefestigkeit des jeweiligen Baums.

Bäume entwickeln an unterschiedlichen Standorten stark unterschiedliche Festigkeiten. Deshalb kann hier nicht mit allgemeingültigen Tabellen gearbeitet werden. Um den Widerstand eines Tragbaumes mit der Lastseite vergleichen und bilanzieren zu können, müssen seine individuellen Werte bekannt sein. Unter Berücksichtigung eines Sicherheitsfaktors kann schließlich die Ausnützung gegenüber einem möglichen Baumversagen sehr genau errechnet werden. In Abhängigkeit von der Art des Lasteintrags werden in einem eigenen Kapitel geeignete Anschlagtechniken empfohlen.

Mit dem Tree Engineering Gutachten übernimmt der Unterzeichner als Fachingenieur die Haftung für die Betriebssicherheit des Tragbaumes, bzw. der Tragbäume, wenn es sich um eine komplexe Anlage handelt. Unter dem Begriff „Baummanagement“ werden weiterhin Hinweise zum Baum-, Natur- und Umweltschutz geliefert. Hervorzuheben ist die Regelung des Verkehrs unter anderem durch eine geeignete Wegeführung. Das unmittelbare Umfeld von Tragbäumen sollte vom Publikumsverkehr freigehalten werden, um Bodenverdichtung und Vandalismusschäden zu vermeiden. Vor allem der nicht sichtbare Teil eines jeden Baumes, das Wurzelwerk, ist ein lebenswichtiges und sehr sensibles Organ, das besonders geschützt werden muss.

Das Baumgutachten ist im Bereich des Tree Engineering besonders wichtig. Hier werden individuelle, statisch relevante Parameter erfasst und interpretiert

Tree Engineering – Forschung und Lehre

An der TU Dortmund werden zur Erhebung wissenschaftlicher Daten Untersuchungen an so genanntem „grünem Holz“ angestellt, was sich von technisch getrocknetem Baukonstruktionsholz eklatant in der Festigkeit unterscheidet. In einer Versuchsanlage können ganze Baumstämme mechanisch untersucht werden. Gleichzeitig finden in der Natur Forschungen statt, um mit Hilfe von Beschleunigungsaufnehmern die Dynamik von lebenden Bäumen bei unterschiedlichen morphologischen Voraussetzungen zu erfassen.

Tree Engineering (TE) Lehrsätze:

TE-Lehrsatz 1:

Bäume sind Lebewesen, die auf innere und äußere Reize reagieren.

Natürliche, äußere Reize lösen Bewegungen aus, welche zu einer Optimierung der Gestalt führen. Dieses gesteuerte Wachstum heißt Gravitropismus, Transversaltropismus, Phototropismus und Thigotropismus. Bei Verletzungen wird schnell wachsendes Wundgewebe produziert, um einen raschen Wundverschluss zu bewirken. Bei statischen Veränderungen (z.B. Hangrutsch, Neigung oder Fäulnis) wird entsprechend stabiles Reaktionsholz gebildet, um die überhöhten Spannungen abtragen zu können.

TE-Lehrsatz 2:

Der vitale Baum ist eine integrale, stabile Gesamtstruktur unter- und oberhalb der Erde.

Die Steifigkeit der Struktur ist in der Genetik des Baumes so angelegt, dass sich seine Vorfahren erfolgreich reproduzieren und die integrale Stabilität erhalten konnten. Diese Eigenschaft wird dem vitalen Baum i.d.R. vererbt. Die biologische und mechanische Belastungsgeschichte kann die Stabilität der Gesamtstruktur jedoch so negativ beeinflussen, dass die Steifigkeit der Struktur nicht ausreicht, um bei mechanischer Störung den Verlust der Stabilität zu verhindern. Dies begründet die Notwendigkeit der eingehenden Baumbegutachtung, um über die integrale Stabilität Aussagen machen zu können.

TE-Lehrsatz 3:

Vitale Bäume können Korrekturen in der Form ihres Wuchses vornehmen.

Speziell ausdifferenzierte Zellen bilden lokales Reaktionsholz (Zugholz, Druckholz, Verstärkungsrippen, etc.) mit erhöhter Festigkeit und können damit die Ausrichtung des Stammes und der Äste korrigieren.

TE-Lehrsatz 4:

Vitale Bäume sind adaptive Tragwerke.

Sie verfügen über Sinnesorgane, welche die mechanischen Hauptdehnungen permanent überwachen und ab einer gewissen Schwelle Wachstumsreize im Meristem und im Kambium auslösen. Die Adaptivität betrifft den Ausbau des Wurzelwerks, das Dickenwachstum von Stamm und Ästen sowie die lokale Bildung von Reaktionsholz. Kommt es zu lokaler Schädigung in der Struktur, wird die Adaption natürlich angesprochen. Wird zusätzliche Last im Baum verankert, kommt es unterhalb der Verankerung zu veränderter Dehnungscharakteristik und entsprechenden Wachstumsreizen.

TE-Lehrsatz 5:

Tragbäume erfahren durch die technische Anlage eine höhere Belastung als nicht angesprochene Bestandsbäume.

Diese höhere Belastung führt zur Reaktionsholzbildung, welche nach dem Prinzip der Selbstoptimierung moderat und differenziert ausgeführt wird. In der Summe bildet ein Tragbaum mittel- bis langfristig Reaktionsholz aus, welches höhere Lasten aus natürlichen Veränderungen und aus künstlichem Lasteintrag kompensieren kann. Diese Eigenschaften qualifizieren vitale Bäume in besonderer Weise als Tragsysteme, weil in jeder Wachstumsperiode Optimierungen automatisch stattfinden. Dies steht im Gegensatz zu Konstruktionsholz, in welchem ab dem Zeitpunkt der Fällung kein Aufbau, sondern nur noch Zersetzung stattfindet.

TE-Lehrsatz 6:

Bäume bilden ihre Festigkeit moderat aus.

Zwar muss die Stand- und Bruchsicherheit auch für widrige Umweltbedingungen ausreichen (Regen, Schnee, starker Wind), aber es wird nichts überdimensioniert. Aus dem durchschnittlichen Wettergeschehen wird ein natürlicher Sicherheitsfaktor gebildet, welcher das sekundäre Dickenwachstum begrenzt. Wird dieser natürliche Sicherheitsfaktor z.B. von einem künstlichen Lasteintrag vollständig aufgebraucht, führen Wetterextreme zu irreversiblen Schäden am Tragbaum. Deshalb sollte ein künstlicher Lasteintrag, welcher bis an die Grenze der Tragfähigkeit eines Baumes heranreicht, in zeitlich versetzten Laststufen erfolgen, damit dem Tragbaum genügend Zeit gewährt wird, um Reaktionsholz anzulegen und sich somit der steigenden Last anzupassen.

Tragbäume werden durch die zusätzliche Beanspruchung in ihrer Stand- und Bruchsicherheit geschwächt. In der Adaptionsphase bildet der vitale Baum Reaktionsholz aus, um überhöhte Spannungen aufnehmen zu können

Tree Engineering – Teil II

Im zweiten Teil dieses Beitrags, der in der nächsten Ausgabe von OBEN präsentiert wird, geht es um die Forschung und Entwicklung von geeigneten Anschlagmitteln zur Einleitung von Lasten in lebende Bäume.

Lebende Bäume fassen auch metallische, zylindrische Körper auf eine völlig natürliche Art ein

Ausblick: Implantattechnik

Seit 2006 befasst sich der Industriedesigner und Tree Engineer Martin Zeller mit der Entwicklung von Baumankersystemen. In Zusammenarbeit mit der TU Dortmund wurden in den letzten Jahren modulare, adaptive Baumankersysteme in Implantattechnik entwickelt. Implantate unterscheiden sich von Baumschrauben hauptsächlich dadurch, dass der Kraft aufnehmende Teil des Konstruktionselementes nicht außen auf dem Rindenmantel aufliegt oder davon absteht, sondern im Kernholz verankert wird. Eine wesentliche Rolle spielt das geplante Einwachsen des Implantats: Mit einer speziellen Gewindeform und einem astähnlichen Umwallungsabschnitt wird dem Tragbaum ein Formteil eingesetzt, welches viele Merkmale einer natürlichen Astanbindung aufweist.

In seiner Forschungsarbeit hat Martin Zeller herausgefunden, dass die Kallusbildung nicht nur zum Wundverschluss eingesetzt wird, sondern auch um Äste kraftschlüssig zu umschließen. Durch Versuche wurde nachgewiesen, dass lebende Bäume auch metallische, zylindrische Körper auf eine völlig natürliche Art einfassen.

Martin Zeller, geb. 1963 in München, studierte zunächst Industriedesign, dann Architektur an der FH München. Nach fast zwei Jahrzehnten Tätigkeit in verschiedenen Planungsbüros in München, Stuttgart und Freiburg wurde ihm die Büroarbeit zu technoid und er folgte seinem Drang, in und mit der Natur zu arbeiten. In den Jahren 2006 bis 2008 ließ er sich am Forschungszentrum der Uni Karlsruhe (heute KIT) von Prof. Dr. Claus Mattheck zum Tree Engineer ausbilden. In dieser Zeit wurden die ersten Baumschrauben entwickelt, getestet und als Anschlagmittel zur Aufhängung von Baumhäusern eingesetzt. Ab 2015 wurde die modulare Zeller-Baumschraube auch in Kletterwäldern verbaut.

Martin Zeller leitet heute das Baumzentrum Kaiserstuhl und lehrt an der Fakultät für Architektur und Bauingenieurwesen der TU Dortmund die Fächer „Tree Engineering“, „Organisches Bauen“ und „Organic Tiny House“. Er promoviert auf dem Gebiet der vergleichenden Analyse der unterschiedlichen Festigkeiten verschiedener Baumarten in Deutschland und begleitet die Weiterentwicklung von Baumankersystemen an der TU Dortmund.

Infos und Kontakt:

Baumzentrum Kaiserstuhl
Martin Zeller, Tree Engineer

 

Hauptstr. 128
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Tel.: 07663 94 94 22
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